Dr. Hanna-Renate Laurien im “Handruper Forum”

10. Januar 2011 | Administrator | Kategorien: Handruper Forum

Ethik für das dritte Jahrtausend?

Zur Referentin:
Dr. Hanna-Renate Laurien,
Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin a.D.

Vortrag im Rahmen des „4. Handruper Forums“ vom 23. April 1996.

(Wortgetreue Abschrift des Vortrags nach Bandmitschnitt.)

Begrüßung durch P. Dr. J. Meyer-Schene

Ich begrüße Sie, liebe Eltern, Schüler und Lehrer herzlich zu dieser Abendveranstaltung und freue mich, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind. Mein besonderer Gruß gilt auch den eingeladenen Kommunalpolikerinnen und Kommunalpolikern aus dem Einzugsbereich unserer Schule. Für alle hier anwesenden Orts- und Samtgemeindebürgermeister begrüße ich stellvertretend den Bürgermeister der Gemeinde Handrup, Herrn Josef Stockel. Ein besonderer Gruß gilt auch den Geistlichen aus den Dekanaten, aus denen unsere Schülerinnen und Schüler kommen und hier begrüße ich stellvertretend für alle unseren Ortspfarrer Herrn P. Karl Hogeback. Unter unseren Gästen ist heute auch unser Landrat, der Landrat des Kreises Emsland, Herr Josef Meiners aus Freren. Auch Ihnen Herr Landrat gilt ein besonderer Willkommensgruß, Herr OKD Bröring läßt herzliche Grüße ausrichten und wünscht unserer Veranstaltung einen guten Verlauf. Er kann heute nicht hier sein, weil er eine wichtige Verhandlung in Hannover hat – es wird, so kann man sicher vermuten, um Geld gehen.

Sehr geehrte Frau Dr. Laurien, ein ganz besonderer Gruß und ein herzliches Willkommen unserer Elternschaft und unserer ganzen Schulgemeinschaft gilt natürlich Ihnen. Ich möchte ihnen aufrichtig danken, daß Sie mir für den heutigen Abend auf meine erste Anfrage hin im vorigen Jahr sofort eine Zusage gegeben haben zu uns in Handrup zu sprechen. Ich darf auch hinzufügen, daß es für mich persönlich eine besondere Freude ist, Sie hier als Gast in Handrup begrüßen zu dürfen, denn vor gut dreißig Jahren habe ich im Rahmen meiner ersten philologischen Staatsprüfungen an der Universität in Köln bei Ihnen mein Pädagogikexamen abgelegt und ich habe das bis heute noch in guter Erinnerung.

Ich will hier zu den Stationen Ihres Lebensweges nichts sagen. Ich habe das in meinem Elternbrief und in Pressemitteilungen hinreichend getan.

Wichtiger ist es, auf das Thema des heutigen Abends hinzuweisen: In unserer Gesellschaft wird von Politikern, von den beiden großen Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen immer wieder die bevorstehende Jahrtausendwende thematisiert. Sie wollen heute zu uns sprechen zu dem Thema „Ethik für das dritte Jahrtausend?“. Das Thema dieses Abends erhält seine Relevanz insbesondere dadurch, daß die gravierenden religiösen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts auch zu einem Wandel der Lebensgestaltung und Lebensbetrachtung geführt haben. Am Ende des zweiten Jahrtausends drängen sich Fragen auf, deren Beantwortung zum größten Teil noch aussteht. Letztendlich geht es um die Freiheit und um daraus resultierende neue Freiheiten. Die Grundlagen dieser Freiheit und der verantwortungsbewußte Umgang mit ihr fordert die Generationen zu einem neuen Denken heraus.

Ich bin sicher, sehr geehrte Frau Dr. Laurien, daß Sie uns heute Abend Impulse mit auf den Weg geben können, die uns zu neuer pädagogischer Verantwortung inspirieren. Ich darf Sie jetzt bitten, zu uns zu sprechen.

Vortrag Dr. Hanna-Renate Laurien

Ja, meine Damen und Herren, lassen Sie mich schmunzelnd bemerken, was so aus dem Studenten von früher geworden ist. Ich habe mich vorhin übrigens geirrt, ich dachte bisher, daß Sie mein Opfer als Fachleiterin waren, aber Sie sind ja noch früher mein Opfer gewesen, als ich an der Kölner Uni zehn Jahre lang Prüfer war. Ja, ja, man freut sich ja wenn dann trotzdem aus jemandem was geworden ist.
Meine Damen und Herren, dieses Thema kann uns einen tüchtigen Schrecken einjagen. Wollen wir die Systeme eines Aristoteles, eines Thomas von Aquin, eines Kant oder die kantkritischen erfahrungsbetonten oder ganz rational konzipierten Entwürfe der Moderne diskutieren und fragen, welcher Entwurf uns bekömmlich sein könnte? „Ethik“ ist hier nicht um eines Systems willen in die Überschrift gesetzt: Es soll damit ausgesagt werden, daß es nicht um eine mehr oder weniger verbindliche „Werte-Diskussion“ geht, sondern daß wir vielmehr nach Haltungen fragen wollen, die für ein Zusammenleben wichtig erscheinen.

Wir wollen auch nicht mit prophetischer Kraft voraussagen, was im Jahr 3000 erwünscht sein könnte, sondern nach Zeichen der Zeit und ihrem Zukunftsbezug fragen.

Die Ambivalenz der Freiheit

Herausragendes Kennzeichen heute ist die Ablehnung jeder Fremdbestimmung. Aus ihr wächst die kritische Einstellung gegenüber Institutionen. Doch offensichtlich reicht „Selbstbestimmung“ nicht aus. In fast allen Schulgesetzen findet sich die Zielsetzung, die jungen Menschen zu einem „selbstbestimmten und verantwortungsvollen Leben” zu führen und Art. 2 unseres GG setzt die Grenze der eigenen personalen Entfaltung im Recht anderer. Wo beginnt dieses? Wir stoßen auf eine Vielzahl von Meinungen. Solcher Pluralismus ist nun nicht etwa ein Übel. Pluralismus ist die Konsequenz der Freiheit. Eine vor Jahren schon von Schillebeeckx beschriebene Tatsache haben wir in der Vereinigung Deutschlands hautnah erfahren: Im Veto der Menschen gegen Diktatur, Ausbeutung, Unrecht finden sich viele zu einem einstimmigen Nein, in dem schon als Hoffnung das „offene Ja“ zu ahnen ist. Wird das offene, das freiheitliche Ja möglich, so ist es niemals einstimmig, es ist – nochmals – als Konsequenz der Freiheit stets plural. Schon 1979 stellte Ralf Dahrendorf knapp und vermutlich nicht jedem verständlich fest: „Wenn die Optionen ins Grenzenlose wachsen, müssen die Ligaturen gestärkt werden. Wenn die Wahlmöglichkeiten – in Waren wie in Meinungen – ins nahezu Uferlose wachsen, müssen die Maßstäbe, die Bindungen gestärkt werden. Sie sind Voraussetzung für bewußtes Wählen.“ Wir können unsere und die künftige Situation mit Peter Berger überschreiben: „Vom Schicksal zur Wahl“. Wählen müssen wir, die Frage ist nur, was die Kriterien der Wahl sind: Beliebigkeit oder bewußte Maßstäbe. Die These von der Wertfreiheit, das Behaupten einer Wertneutralität wird schon in diesem Zusammenhang als Ideologie entlarvt.

Köstlich hat Volker Braun dies (1985) in einer Szene in seinem Hinze-Kunze-Roman beschrieben: Hinze, Fahrer eines SED-Funktionärs, kommt in einer Kantine in eine ihm völlig neue Situation. Er darf und muß zwischen vier Essen wählen. Ich zitiere in großen Sprüngen, was Hinze da so sinniert: „Freiheit, das ist die Einsicht in die (…) Notwendigkeit zu wählen zwischen Erbsen, Vanillenudeln und Rippchen mit Sauerkraut. (…) Die Freiheit ist eine Geschmacksfrage, – besser gesagt – eine Frage der Sachkenntnis (…) Während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen Erbsen, Nudeln und Rippchen scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist — Und wenn er sich nun die Freiheit nimmt, von allem zu fressen, samt Apfel, Banane und Mandarine (…) So wäre er übersatt, aber niemals frei…“(S. 42 ff). Entscheidungsfähigkeit setzt Kenntnisse voraus. Daraus erwächst die Pflicht, über die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten zu informieren. Dietmar Mieth hat in anderem Zusammenhang ein Modell beschrieben, das uns, so meine ich, weiterhelfen kann. Er fordert die Vermittlung „einer offenen Reihe von Haltungsbildern im Sinne ethischer Modelle.“ Es lohnt, eine solche Reihe über die Jahrhunderte hin zu entwickeln – von Iphigenie bis zu Wilhelm Tell, von Ghandi bis zu Bonnhoefer, von Franz von Assisi bis zu Thomas von Aquin, von Teresa von Avila bis zu Maria Ward … An so gelebten Leben können die eigene Entscheidungsbereitschaft und Entscheidungsfähigkeit wachsen. Welchen Weg die jungen Leute gehen werden, entscheiden sie, aber die Wegweiser müssen beschriftet sein, es muß erkennbare begründete Unterschiedlichkeit geben. Nur so können wir das Gefühl der Überforderung mindern.

Manche Zuwendung zum Fundamentalismus ist nichts anderes als ein Aufschrei aus Orientierungslosigkeit. Es ist einfacher, wenn einem jemand sagt, wo’s lang geht. Und es wird immer wieder Menschen geben, die den Schwachen entlasten wollen, die wie der Großinquisitor in Dostojewskis Brüdern Karamasow stellvertretend seine Zweifel tragen und ihn so von der gefährlichen Freiheit befreien wollen.
Das ist nicht der Weg ins dritte Jahrtausend. Wir finden die Spuren solchen Denkens nicht nur in politisch radikalen Parteien, wir haben auch in unserer Kirche solche Auseinandersetzung zu bestehen. Wir finden seine Spuren z. B. in der Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre „Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen“ (24. Mai 1990), in der „Dissens“ als Übel gilt und nicht etwa als gemeinsames Ringen um Erkenntnis, in der die Wahrheit, anders als in der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, anders als bei Thomas von Aquin, mehr zählt als die freiheitliche, gewiß unter Umständen irrende Gewissensentscheidung. Schweigender Gehorsam wird angeordnet. Der hat keine Zukunft. Nicht Befehlen, sondern das so viel mühsamere Geschäft des Überzeugens ist uns aufgetragen. Wir müssen unsern Ort finden.

Das ist auch der Akzent, der unser Grundgesetz kennzeichnet: Nur dem Staat werden Verpflichtungen auferlegt, das staatliche Handeln wird daran gemessen, ob es mit den verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechten des einzelnen zu vereinbaren ist. Diese Verfassungs- und Grundrechte sind: Personenwürde, Meinungs- und Glaubensfreiheit Glaubensfreiheit, und sie verlangen soziale und rechtliche Sicherung. Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, ob und wie sie von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen wollen, und die ebenfalls durch die Verfassung geforderte Gewaltenteilung ermöglicht freiheitliche Teilhabe. Der Staat soll Herrschaft so gestalten, daß, wie Prof. Hennis es einmal formuliert hat, „der Mensch so leben kann, wie er leben sollte. “ Dies „sollte“ setzt die Verfassung nicht fest. Es macht die ethische Qualität des einzelnen aus, das „Sollte“ zu finden.

Gibt es Verpflichtungen für den Bürger, die Bürgerin, so müssen sie als Gesetz parlamentarisch festgelegt und damit berechenbar werden. Sie sind dann konkrete Verpflichtungen, ob sie sich nun auf die Steuer oder aufs Baurecht beziehen. Sie verpflichten zum Vollzug, nicht aber zu einer Gesinnung. Ob ich die Pflicht mißmutig oder freudig erfülle, das ist meine Sache, nicht Sache von Staat, Gesellschaft oder Verfassung.

Professor Josef Isensee, der eindrucksvoll liberale und antidemokratische Verfassungen verglichen hat, (Grundrechte und Grundpflichten unter der DDR-Verfassung und dem Grundgesetz, in: 1.Wittenberger Gespräch, Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt. (Juli 1993) nannte als Voraussetzung zum Verwirklichen der Grundrechte: Rechtsgehorsam, also das Beachten mehrheitlich verabschiedeter Gesetze auch dann, wenn man sie selbst für unvollkommen hält; Friedenspflicht, also Verzicht auf Gewaltanwendung jeder Art durch die Bürger, als Kehrseite sozusagen des staatlichen Gewaltmonopols und drittens eine gewisse nationale gesellschaftliche Solidarität.

Sie drückt sich etwa im System der Krankenversicherung und der Renten, aber auch in den Steuern aus. Hier bemerken wir heute Schwäche über Schwäche. Steuerhinterziehung wird weithin als Kavaliersdelikt, nicht als Diebstahl am Wohl aller verstanden. Daß das Überwinden der Folgen von mehr als 40 Jahren SED-Mißwirtschaft eine Probe der nationalen Solidarität ist – weit mehr als eine Kostenfrage – das hat sich in unserer Republik erst recht schwach herumgesprochen. Ganz unsystematisch bemerke ich: Mag der erste Zeitpunkt, als die Mauer fiel, zu solchem Solidaritätsaufruf verpaßt worden sein, auch jetzt, etwa angesichts der Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien wie auch in den GUS-Staaten gibt es Anlässe genug, nationale, europäische Solidarität als Schicksalsgemeinschaft anzusprechen. Da wird Gemeinwohl nicht verstanden als ein über allem thronendes gemeinsames Gut, sondern als sozialer Ausgleich, der Unterschiedlichkeit beläßt, aber das Grundrecht menschenwürdiger Existenz sichert.

Unser Grundgesetz mutet den Bürgern nicht zu, auf Eigennutz zu verzichten. Aber – und das ist ein aufregendes Paradoxon: nur wenn die Bürger ihren Eigennutz begrenzen, können sie sich das Recht auf Eigennutz bewahren – nur wenn der bourgeois auch bereit ist, als citoyen einzutreten, bleibt seine Lebensmöglichkeit als bourgeois bewahrt, oder mit den Worten von Josef Isensee: Der Verfassungsstaat oktroyiert den Bürgern kein Ethos, und er garantiert es nicht. Aber er baut auf ihr Ethos.“

Dr. Hanna-Renate Laurien
• geb. am 15. April 1928 in Danzig
• Germanistik, Anglistik und Philosophie-Studium an der Freien Universität Berlin
• 1951 – 1970 Gymnasiallehrerin in NRW
• 1965 – 1970 Schulleiterin
• ab 1971 Staatssekretärin im Kultusministerium von Rheinland/Pfalz
• 1976 Kultusministerin in Rheinland/Pfalz
• 1981 Senatorin für Schule, Jugend und Sport in Berlin unter Richard von Weizsäcker
• 1991-1995 Berliner Parlamentspräsidentin

Die Entmündigung durch den allzuständigen Staat wird in Diktaturen vollzogen. Sicherheit erscheint als höchstes Gut. Aber auch in Demokratien, die allzuviele Pflichten an den Staat delegiert haben, hat der Ruf nach Sicherheit oft Vorrang vor dem Wagnis der Freiheit. Voller Ironie stellte der tschechische Priester Halik, geheim geweiht, kurz nach der Wende fest: „Im Gefängnis hatte ich keine Sorge, daß ich einen Autounfall haben könnte.“ Freiheit, das wird deutlich, gibt es nicht zum Nulltarif, und sie erfüllt sich in der in Freiheit vollzogenen Bindung. Vor solcher „Langzeitbindung“ schrecken heute viele zurück. Sei es Parteien, Gewerkschaften, Kirchen gegenüber oder auch vor der Institution Ehe. Läßt man sich im Gespräch auf die Inhalte ein, so wird meist erkennbar, daß diese kaum abgelehnt werden, nur die Langfristigkeit als Verbürgen eigener Zuverlässigkeit und vor allem, die Art der Vermittlung treffen auf Kritik. Wir müssen aber um des Zusammenlebens in schwierigen Zeiten die Bindungsfähigkeit stärken. Das gelingt nicht mit moralischen Appellen, das setzt voraus, daß wir die Bindungsbereitschaft in den neuen Formen, auch in den “Uniformen”, anerkennen, uns miteinander auf dem Wege sehen und helfen, aus dem Addieren von „Projektbindungsbereitschaft“ mehr wachsen zu lassen. Es verlangt auch, daß die Formen der Vermittlung unter die Lupe genommen werden – nehmen Sie als Beispiel das Gebot, am Sonntag zur hl. Messe zu gehen. Die Drohung, das sei schwere Sünde, erzeugt kaum mehr ein Lächeln, nur ein Achselzucken. Aber die Bemerkung, daß ich das brauche, weil es mich ernährt, kann zur Frage „Warum?“ führen und aus gelebtem Zeugnis kann – nicht muß – Interesse, ja vielleicht mehr als Interesse wachsen. Professor Paul Zulehner wird bei der Erörterung der Bindungsbereitschaft nicht müde, auf die entlastende Funktion von Institutionen hinzuweisen und uns aufzurufen, diese Funktion zu verdeutlichen.

In dieser begründeten Vielfalt, und das kann ich nur anreißen, ist die Entwicklung einer Kultur des Streitens unerläßlich, deren Überschrift lautet: „Gegner ja, Feinde nein“, die Toleranz nicht als Hinnehmen von Unterschiedlichkeit, sondern als Fördern von Unterschiedlichkeit verstehen lehrt und die im Dialog weder gefällige Anpassung, noch Bekehrungsinstrument oder folgenlose Alibiveranstaltung sieht, die Dialog vielmehr als Nagelprobe für mein Ja durch dein Nein und umgekehrt versteht und im Begreifen der Position des anderen sich bereichert erfährt.

Die Scheu vorm Akzeptieren von Vielfalt mündet in Fundamentalismus oder Beliebigkeit. Begründete Unterschiedlichkeit ist zu bewahren und zu entwickeln und die vor wenigen Jahren vom Intendanten Dieter Stolte erhobene Frage, wieweit unser Spektrum dabei reichen soll, muß gestellt werden. Der Systemgegner von gestern ist heute eine Facette im Spektrum der Vielfalt. Weil wir nicht grundsätzlich und gründlich über Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen diskutiert und nachgedacht haben, gibt es so divergierende Zumutungen wie die „Rote-Socken-Kampagne“ einerseits und die Einplanung der PDS als Machtbeschaffungsinstrumänt andererseits. In beiden, recht unterschiedlich zu wertenden Fällen bewährt sich übrigens die Tragfähigkeit der Demokratie.

Freiheit und Gerechtigkeit

Um diese Tragfähigkeit geht es auch, wenn wir Freiheit und Gerechtigkeit verbinden. Wir gehen, wenn auch zögernd, so doch unausweichlich, auf ein gemeinsames Europa zu. Wir Deutschen machen hier exemplarische Erfahrungen im vereinigten Deutschland. Wenn Grenzen fallen, Mauern zerbrechen, ist der Vergleich der Lebensbedingungen unausweichlich, stellt sich die Frage der Gerechtigkeit. Alltagswirklichkeit wird verglichen. Übrigens eine kleine Zwischenbemerkung: Die Unzufriedenheit steigt, wenn der Mangel abnimmt. Haben unter tausend Leuten nur zwei ein Telefon, gibt es kaum Aufgeregtheit. verschiebt sich aber das Verhältnis zu 700:300 ist die Kritik lautstark. Doch noch einmal zur Alltagswirklichkeit: Freiheit ist untrennbar mit der wirtschaftlichen Situation verbunden. Ist die erste Erfahrung die der Arbeitslosigkeit, so wird nicht die Misere der Kommandowirtschaft, die zu dieser Situation führte, angeprangert, vielmehr wird das neue System verantwortlich gemacht. Wir haben begriffen und müssen auch künftig begreifen, daß sehr konkrete Übergangsformen für den Weg von der Kommandowirtschaft zur freien, und ich sage sehr nachdrücklich, zur freien und sozialen Marktwirtschaft entwickelt werden müssen. Die „reine Lehre“ ist vom Übel, auch unser freiheitliches und soziales Wirtschaftssystem hat sich allmählich entwickelt und hat nicht nur Vorzüge aufzuweisen.

Wer hier nur von „Sachzwängen“, von „objektiver Entscheidung“ redet, verpaßt die Wirklichkeit der Menschen. Ohne Güterabwägung, ohne ethische Maßstäbe, die durchaus unterschiedlich sein können, gibt es kein Bündnis von Freiheit und Gerechtigkeit. Ich erinnere Sie an die Diskussion über den Einsatz deutscher Blauhelme im ehemaligen Jugoslawien oder an die Entscheidung zu den Entsenderichtlinien im Baugewerbe. Zugespitzt entscheide ich mich entweder für die Arbeitslosigkeit des Iren und des Polen, denn der schlechter Ausgebildete hat nur als Billigkraft eine Chance, oder für die Arbeitslosigkeit des Deutschen. Vergleiche ich die Situation von Arbeitslosen in den genannten Ländern, müßte ich aus humanitären Gründen gegen Entsenderichtlinien sein; beachte ich den sozialen Sprengstoff im eigenen Land, das Entstehen von Haltungen, die Öffnung als Gefahr ablehnen, so entscheide ich für Entsenderichtlinien. Nicht viel anders ist die Abwägungssituation, etwa beim Zustrom von Ausländern. Werden da Entscheidungen nur opportunistisch getroffen, können sie nicht Bestand haben. Sie müssen begründende Abwägung zur Grundlage haben, und das setzt – übrigens unerläßliches Kennzeichen aller Eliten in freien Staaten – Kompromißfähigkeit voraus. Das ist nicht Verzicht auf Ethik, das ermöglicht Zusammenleben. Zu gern zitiere ich aus der Regula Sancti Benedicti. Da ist klar, Ordnung ist unerläßlich. Zuspätkommen gefährdet die Ordnung. Wann ist man – beim Chorgebet – zu spät gekommen? Wenn der 1. Psalm zu Ende gesungen ist – und nun kommt die hinreißende Bemerkung: „Also singe man ihn getragen.“ Ohne diese Fähigkeit, „getragen zu singen“, dann allerdings auf dem Einhalten des Vereinbarten zu bestehen, werden wir es in der Zukunft sehr schwer haben. Bei aller Kritik an Tarifabschlüssen: in Deutschland ist die Geschichte von Arbeitgebern und Gewerkschaften kein schlechtes Beispiel für Kompromißfähigkeit. Sie setzt, ich hoffe, das ist nicht in den Gedanken verloren gegangen, auch ethische Maßstäbe voraus.

Eine neue Brisanz entsteht, wenn wir in Technik, Wirtschaft, Staat um der Bewahrung der Schöpfung willen, um der Erhaltung der finanziellen Tragfähigkeit willen zur Einsicht kommen, daß Begrenzungen, ja Kürzungen unumgänglich sind, wenn demnach nur das Nein zu bestimmten Forderungen die Zukunft derer sichert, die diese Forderungen stellen und uns trotzdem wählen sollen. Tagesbilanz gegen Zukunft. Jeder stimmt dem Ziel zu, aber wird ein Weg dazu genannt, ist sofort die Demo fällig, wird sogleich ein anderer Weg empfohlen, der entweder genauso demonstrationsanfällig oder nur populistisch ist. Als Beispiel seien nur genannt die Debatte über Studiengebühren oder der Vorschlag, vor den Verhandlungen über ein mögliches Bündnis zum Abbau von Arbeitslosigkeit gemacht, die Staatsverschuldung zu erhöhen. Wer so spricht, muß sich die Frage nach seinen oder ihren ethischen Maßstäben gefallen lassen.

Längst wissen wir auch, daß in der Wissenschaft, in Forschung und Technik nicht alles, was technisch machbar ist, auch ethisch verantwortbar ist. Seit längerem wird gefordert, Wissenschaft, und das heißt auch gymnasiale Bildung, um die ethische Dimension zu erweitern. Im l0 Thesen umfassenden Memorandum des Deutschen. Philologenverbandes „Bildung-Kreativität-Innovation“ findet sich diese Forderung in These 9. Solche Ethik betrifft alle Fächer, sie kann und darf nicht auf Religion oder Sozialkunde abgedrängt werden. Sie ist Voraussetzung für verantwortbares Handeln. Die These der Wertfreiheit, der Objektivität ist abermals als Ideologie entlarvt. Der positivistische Wissenschaftsbegriff ist an sein Ende gekommen. Ohne Stellungnahme, die zugleich offen ist für die abweichende Stellungnahme des anderen, gibt es keine gute Zukunft.

Vom verlorenen Himmel

Kennzeichen unserer Zeit, und ich verweise hier auf die gründlichen und eindrucksvollen Untersuchungen von Paul Zulehner, ist die Säkularisierung. Die Mehrzahl, in Ost noch weit ausgeprägter als in West, aber auch in West, versteht ihr Leben vor allem diesseitig. Zulehner: Totale Diesseitigkeit entsolidarisiert. Ich will alles im Hier und möglichst im Heute haben. Auch die Frage der Gerechtigkeit geht mit dem Streichen einer Wirklichkeit, die unsere meß- und zählbare Wirklichkeit übersteigt, verloren. Der Himmel ist den meisten abhanden gekommen, und da der Mensch nun einmal das Wesen ist, das fragt, suchen sie Sinn im Hier, hoffen, daß der andere Mensch, den sie lieben, sie von ihrem Ich erlöst und lassen, wenn diese Bemühungen scheitern, ihr Fragen nicht selten im Konsumrausch untergehen und errichten rund um sich die berühmten „Anspruchszäune“.

Die Frage nach dem Zusammenhang von Ethik und Transzendenz stellt sich unausweichlich.

Günter Kunert erklärte 1990 auf dem Pen-Kongreß, daß es für ein Miteinander ausreiche, sich einfach „menschlich“ zu verhalten“ und Friedrich Dürrenmatt sagte in einem Interview in der WELT vom 22.l0.1990: „Wenn mich jemand fragte, ob ich an Gott glauben würde, würde ich zurückfragen: ‚Ja, was genau meinen Sie denn, woran ich glauben soll?‘ Da werden die meisten sehr verlegen, weil sie gar nicht recht wissen, was sie sich unter Gott vorstellen.“ Sein Fazit: „Der einzelne Mensch kann ohne sie (die Relg.) auskommen. Der Mensch im allgemeinen ist aber dazu nicht im Stande.“ Ihm ist dann der Islam die am ehesten einleuchtende Form der Religion.

Lassen Sie mich unsystematisch, aber vielleicht doch in tiefem Zusammenhang mit unserer Frage stehend bemerken: Die Frage, was denn Gott sei – „Was ist der denn?“ – die wird mir in den neuen Ländern gar nicht so selten gestellt. Und ich empfehle, gerade weil ich die Verantwortung vor Gott und den Menschen (nicht nur in unserer Verfassung) für einen Schutz vor einer Staatsmoral halte, sich dieser Frage zu stellen. Der Mensch ist dann nicht Maß und Herr aller Dinge, er versteht sich nicht als Macher, sondern als Geschöpf, nimmt seine Fähigkeiten und die Schätze dieser Erde als Geschenk, das zu bewahren und zu entfalten ist. Otto Hermann Pesch hat in seinem bedeutenden Buch über Thomas von Aquin verdeutlicht, daß die Vernunft ihre Freiheit in den Grenzen des Glaubens hat. Das ist kein Einwand gegen die Autonomie der Vernunft in unseren Wissenschaften, aber es konkretisiert und begründet die Begrenzung der Wissenschaft durch Ethik, von der wir im Zusammenhang der Gerechtigkeit gesprochen haben. Erlauben Sie mir, Pesch zu zitieren. Er fragt: „Haben wir eigentlich noch den Mut, davon auszugehen, daß der Glaube uns in die Wahrheit, in die letzte Wahrheit unseres Seins versetzt? Wagen wir, uns zu sagen, daß das ein Geschenk an unsere Vernunft ist, weil es sie von aller Orientierungslosigkeit entlastet und sie eben dadurch freigibt für die ihr wirklich gestellten Aufgaben?“(S.141). Wenn Hans Küng in seinem „Weltethos“ als Voraussetzung für das Bestehen der Zukunft, die Begegnung oder Konfrontation unterschiedlicher Kulturen sein wird, fordert, daß die drei Abrahamsreligionen, Judentum, Christentum, Islam erst einmal wissenschaftlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede prüfen und darstellen, so wie es Protestanten und Katholiken etwa bei der Untersuchung der „Verwerfungen“ gemacht haben, dann geht es ihm auch darum, durch das Bewahren oder Wiedergewinnen eines Transzendenzbezuges Menschlichkeit zu sichern. Ganz offensichtlich reicht Vernunft nicht aus, um nicht in die menschlichen Abgründe zu stürzen. Ganz deutlich: nach Auschwitz ist die Rede vom jüdischen, helfend-teilnehmenden Gott der Geschichte radikal infrage gestellt, wird aus der Frage nach der Allmacht Gottes die Frage nach der Allmacht des Menschen und dessen Begrenzung. Nach Auschwitz sind die Ideale der Aufklärung ad absurdum geführt. Ich möchte auf ein Buch aufmerksam machen, das ich zwar noch nicht ganz gelesen habe, dessen besondere Qualität mir aber schon erkennbar ist und dessen erstklassige Besprechung Sie in der Orientierung vom 29. 2. 1996 finden. Von Christoph Münz verfaßt, trägt es den Titel: „Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz“ (Gütersloh 1995). Es macht deutlich, daß – eine Konseqenz des Holocaust – eine in die Wissenschaft, auch in die Geschichtsschreibung involvierte Ethik unerläßlich ist. „Wertfreiheit“, „Nüchternheit“, „Distanz“, „Objektivität“ werden, wenn sie absolut gesetzt werden, sogar schädlich. Gedächtnisorientiertes Erinnern, „Mut zum Fragmentarischen, zur offenen Frage und zur Widersprüchlichkeit“, nicht „Lösungsdenken“, sondern „Unendlichkeit der Exegese“ ermöglichen ein „ethisches und selbstbewußtes Leben nach Auschwitz.“ Das Ja zu unserm Sein als Fragment, das Ja zu unserem Glauben als Prozeß, als Weg der Hoffnung ist die offene, nie in Rezepten und Systemen faßbare Antwort.

Ich zitiere abschließend getrost Eugen Drewermann aus seinem Buch „Ich steige hinab in die Barke der Sonne“: „Erst mit der Vision einer religiösen Perspektive unseres Daseins können wir uns dieser Welt mit Haut und Haaren überlassen; ohne das Wissen von einem anderen Ufer wäre diese Welt für uns nichts als ein Abgrund. Es ist der Glaube, der uns lehrt, dieses Leben zu bestehen.“

In diesem Sinne kann der Christ als Staatsbürger auch für das nächste Jahrtausend Hoffnungsträger sein, kann er in seiner Existenz Freiheit in der Bindung zu verwirklichen suchen.

Podiumsdiskussion:

P. Dr. J. Meyer-Schene:

Ich darf mich bei Ihnen Frau Dr. Laurien ganz herzlich für Ihre Ausführungen bedanken. Ich will hier keine Zusammenfassung bieten und keine Stichworte aufgreifen. Stattdessen wollen wir sofort mit der Diskussion beginnen. Herr Oberstudienrat Wöste hat sich freundlicherweise bereiterklärt, gleich das anschließende Gespräch zu moderieren und zu leiten. Ich möchte nur noch einen Hinweis geben: Frau Dr. Laurien hat für ihren Vortrag an einer freien katholischen Schule kein Honorar verlangt. Wir haben uns aber besprochen und sind übereingekommen, am Ende dieser Veranstaltung für einen guten Zweck zu sammeln und den Erlös unserer Sammlung dem Projekt der Samtgemeinde Freren „Gribowa – ein Dorf in der Ukraine“ zur Verfügung stellen. Ich darf dann an Herrn Wöste übergeben.

Herr Paul Wöste:

Meine Damen und Herren, ich muß gestehen, nun ein wenig irritiert zu sein, galt meine Zusage doch unter der Prämisse, daß sich P. Meyer-Schene noch im Krankenhaus befindet, ich darf Sie aber dennoch ermuntern, Fragen zu stellen und Diskussionanregungen aufzugreifen. (Kurze Pause) Vielleicht beginne ich dann einmal mit einer Frage. Frau Dr. Laurien, Sie haben die Wertediskussion, die ja in diesen Jahren immer wieder geführt wird, etwas beiseite geschoben. Vielleicht können Sie Ihren Standpunkt dazu noch etwas vertiefen.

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Ja, da sage ich nur einen Satz, die Wertediskussion ist mir zu unverbindlich, welche Werte denn? In der freien Demokratie gibt es kein über allem schwebendes, inhaltlich zu definierendes Allgemeinwohl. Das hat ja übrigens Herr von Weizsäcker einmal vertreten und da ist ein faszinierendes Buch von 15 tollen Leuten gegen ihn erschienen – das heißt „Die Kontroverse“ – wo klar gemacht wird, daß in der freiheitlichen Demokratie eines gilt „We agreed to disagree“ – wir stimmen darin überein, daß wir unterschiedlicher Meinung sein dürfen, und da ich davon ausgegangen bin, habe ich die verschiedenen Abwägungsmuster dargestellt, nicht festgelegt, welches richtig ist, ich habe versucht klarzumachen, welche Abwägungen manchmal nötig sind, Freiheit ihre Begrenzung, Gerchtigkeit und Freiheit ihre Beziehung und dann die Transzendenzfrage.

Zuhörerfrage (Herr Heiner Kruke):

Sie haben festgestellt, daß die Idee der Aufklärung ad absurdum geführt worden sei. Können Sie das vielleicht noch einmal begründen. Ich meine nämlich, daß bezüglich der historischen Aufklärung doch noch genügend aufzuarbeiten gibt.

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Ja, da haben Sie recht, aber das aufzudröseln würde wohl ein Seminar. Darüber gibt es in der jüngsten Zeit eine Fülle von Veröffentlichungen, nicht nur von Böckenförde, nicht nur hier von Münz, in der Philosophie gibt ja ganze Schulen – ja, was mach ich nur, daß die Menschen hier das verstehen – warten Sie einmal –

Wenn Sie etwa das Thema „New Age“ nehmen, das ist ja eine Schwebesache, man will die Welt erklärt haben, will alles in einem biologischen Zusammenhang haben, aber man will sich nicht festlegen, man will sich nicht entscheiden müssen. Das ist die eine Antwort auf die Aufklärung. Die andere, die Kant gegeben hat, also mache man jede Entscheidung so, daß sie für alle gelten könnte, daß daraus ein Gesetz würde – das klappt nicht – weil es nicht mit dem Bösen im Menschen rechnet. Auch das geht nach Auschwitz nicht mehr. Es ist im Grunde eine unglaubliche Überzeugung, daß die Religionen, die auch immer mit dem Fehlverhalten des Menschen rechnen, eine dauerhaftere Antwort haben als die Philosophien, die letzlich, letzlich auf der innerweltlichen Verbesserungsfähigkeit des Menschen aufbauen. – Ich hoffe, daß ich das jetzt ohne alle philosophischen Fremdwörter und in brutaler Verkürzung gesagt habe aber letzlich ist ja auch die Idee des Marxismus eine hinreißend menschliche Idee – das unterscheidet ja den Marxismus vom Nazitum – die Nazis wollten auch in ihren pseudointelektuellen Schriften die Herrschaft einer Rasse über andere, der Marxismus will das Gute für alle Menschen und geht von der irrtümlichen Meinung aus, daß wenn die Umstände gut sind, auch die Menschen gut werden. Und da er diese Idee für so toll hält, gestaltet er die Übergangszeit diktatorisch. „Wenn Du das nicht glaubst, muß Du das glauben.“ Der Zwang zum Guten – das scheitert – das landet im Gulag. Und insofern – das ist übrigens das großartige Bündnis von Demokratie und Glauben – und eben auch in dem Sinne Ende der Aufklärung: Demokratie und Glauben rechnen beide gerade mit dem Fehlverhalten des Menschen. Das ist eine ganz unglaubliche Einsicht. Ich will das nochmal sehr personalisieren: Ich bin 1952 als Studentin zum ersten Mal nach England gekommen – bin Jahrgang 28, damals also 24. Ich bin so 4 Wochen „hitch-hiking“ durch England gezogen und so kam ich dann auch ins englische Parlament. Im Gang zwei große Abbildungen, schwarz-weiß und auf dem einen Bild ein Schiff, also phantastisch und die Galeerensklaven drin mit gebrochenen Gesichtern und drunter steht „Tyranny“ – Tyrannei. Und auf dem anderen Bild ein Schiff – ach du liebes bißchen – ein Segel kaputt, ein Matrose lagert, da läuft Wasser raus und da ist auch was kaputt und darunter stand – ich wills zuerst auf Deutsch sagen „Dies Wrack – genannt Demokratie“ – „This wrack called democratie“. Ich blieb fasziniert fast eine halbe Stunde davor stehen. Und ich habe da begriffen, es ist die Stärke der Demokratie, daß sie ihre Fehler bekanntmacht. Leider fällt es so manchem Bürger schwer, das zu akzeptieren. Die haben die Vorstellung von einer blütenweißen oder goldenen Demokratie – die gibt es aber nicht, so wie es kein goldenes Leben gibt.

Zuhörerfrage (Herr Karl-Josef Bußmann):

Frau Dr. Laurien, erlauben Sie eine Frage. Sie hatten sich gerade bezogen auf Herrn Isensee und auf Prof. Böckenförde, die ja nicht aufhören zu betonen, daß der Staat sich zu beschränken habe auf die Sicherung von Frieden und Freiheit und sich jeder moralisierenden Tendenz zu enthalten habe. Ich möchte sie fragen, ob der Staat das so einhalten kann, weil ja gerade doch vom Staate Antworten auf zutiefst moralische Fragen erwartet werden. Genannt sei hier nur der § 218, aber es gibt ja noch andere Beispiele „Soldaten sind Mörder“. Derartige Fragen sind ja eminent moralisch und ich habe den Eindruck, daß die Bevölkerung hier in diesen Fragen auf klare und eindeutige Urteile erwartet. Kann sich der Staat auf Dauer jeglicher moralisierender Tendenz enthalten?

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Also, ich nehme das sehr gerne auf und sage zuerst einmal, daß Ihre Bemerkung, die Bevölkerung erwarte klare Urteile, unzweifelhaft nicht stimmt. Ein Teil der Bevölkerung erwartet und der andere Teil der Bevölkerung erwartet das Gegenteil, und der dritte Teil erwartet sogar die Postulierung einer ganz anderen Haltung. So das nur einmal zur Gesprächsbasis.

Böckenförde, der ja nun unermüdlich mit dem Satz zitiert worden ist, den er in der damaligen Debatte zwischen Helmut Schmidt und Helmut Kohl über die Grundwerte des Staates, wo Böckenförde Helmut Schmidt zulieferte und ein Herr namens Karl Lehmann Helmut Kohl zulieferte. Da hat Böckenförde diesen Satz gesagt, den er heute etwas differenziert. Er hat gesagt, „Der Staat kann die Werte auf denen er aufbaut nicht selber schaffen.“ Das stimmt bis heute. Und er hat damals gesagt und das differenziert er heute, „Er kann sie auch nicht schützen.“ Er sagt heute in seinem Aufsatz „Über die Fundamente der Freiheit“, in dem er eine schonungslose Analyse der heute gültigen Steuergesetze vornimmt, und da sagt er, daß der Staat heute die Sittlichkeit gefährde. Sie merken, das geht über den bisherigen Standpunkt hinaus. Das landet bei dem, was ich eben schon einmal gesagt habe, Staat muß die Bedingungen sichern, daß ich so leben kann wie ich leben sollte. Mehr kann er nicht.

Und nun lassen Sie mich einmal mit Todesmut 218 aufnehmen. In dem Moment – und ich habe die Debatten in den jungen Ländern geführt und ich kann Ihnen sagen, die jungen Frauen, auch die Christinnen, überzeugte Christinnen, katholisch wie evangelisch, haben unsere 218-Regelung nicht begriffen – bis heute nicht. Sie empfinden sie als Terror über die Freiheit der Person. Meine damalige Stellungnahme hieß, ich muß den Staat und seine Gesetze bekämpfen, wenn in diesen Gesetzen auch nur die leiseste Verpflichtung zur Abtreibung enthalten wäre. Deshalb geht es zur Zeit um die Bioethik, diese Bioethiksache auf europäischer Ebene – da ist drin in dem Entwurf – die Deutschen haben aber Contra gehalten – da ist drin in dem Entwurf, daß eine ihrer selbst nicht mehr mächtige Person, also eine schwerstbehinderte Person, der Gesellschaft so viel kostet, und deshalb müßten diese Menschen auch ein Opfer für die Allgemeinheit bringen und für medizinische Versuche zur Verfügung stehen. Da hört’s bei mir auf. Solch ein Gestz muß ich bekämpfen, da wird der Staat unmoralisch. Wenn der Staat ein Gesetz gibt, das verschiedene Verhaltensweisen zuläßt, dann kann ich mir zwar wünschen, daß ich es in eine Richtung bekomme, die ein Verhalten fördert, das ich bejahe, aber dann kann ich letztlich dieses Gesetz nicht ablehnen. Dann muß ich meine Antwort woanders finden; und jetzt sage ich mal etwas ganz Konkretes – ich war ja viele Jahre Vorsitzende der CDU-Frauenunion in Berlin. Und da habe ich, als es mit 218 anfing, probiert, ob wir vielleicht zu einem gemeinsamen Standpunkt kommen können – ausgeschlossen – die einen haben gesagt, es muß ein Unrechtstatbestand bleiben, ich muß ein Unrechtsbewußtsein haben, aber Hilfe und nicht Strafe. Und die anderen haben gesagt, daß ich spinne, das ist zu streichen, das ist die Entscheidung der Frau, wo sind wir denn. Dann verschärfte sich die Debatte, dann hieß es, habe ich übrigens auch mit Frau Hildebrandt in dieser Form debattiert, daß ich gesagt habe, ich trete dafür den absoluten Vorrang des biologischen Lebens ein, die anderen treten ein für mindestens die Gleichrangigkeit des sozialen Lebens: „Du kannst doch diesem Kind nicht dieses Leben zumuten.“ Das ist ein unglaublicher Wertekonflikt. Und auf dieser Ebene kann ich mich auch streiten. Aber dann bin ich nicht die papstgebundene Vernichterin von Frauenfreiheit und die andere ist nicht die Kindesmörderin, sondern wir vertreten zwei verschiedene Anschauungen, in denen wir uns streiten und hinterher miteinander einen Wein trinken können. Das ist das, was ich eben mit der ethischen Haltung versucht habe zu verdeutlichen. Und nun der Staat: Wenn der Staat nun also sagt, du kannst das so und so, dann hat er aber die Pflicht, Hilfen für die positive Entscheidung zu setzen, Hilfen für die positive Entscheidung zu setzen und da geht bei mir immer – obwohl ich bin mittlerweile 68 – und da geht bei mir immer noch ein siebzehnjähriges Temperament hoch – alle die, die die Plakate tragen mit 218 – wenn es um die konkrete Hilfe geht, wenn es darum geht, für die Frau in Not die Krippe zu haben, für die Frau in Not die Arbeitsplatzmöglichkeit zu erschließen, dann sind die alle weggetreten und ich habe in meiner Frauenunion, als ich merkte, es geht überhaupt nicht zusammen, gesagt, Leute, ich weiß, daß ich es nicht schaffe, es bleiben zwei Meinungen, halten wir aus, aber wir treffen uns in sozialem Engagement. Da treffen wir uns, daß so viel Hilfe gegeben wird, daß diese Entscheidung so selten wie nur möglich gefällt werden muß. Und ich habe einmal im Spiegel über die „Sollbruchstelle einer Liebe“ geschrieben, da bin ich gefragt worden, ob ich noch katholisch sei und die anderen haben meinen Rücktritt gefordert, weil ich da geschrieben habe, daß neben den sozialen auch die Brüche in der Liebe da sind. Im Bürgerbüro habe ich das oft genug erlebt: Mann totaler Säufer, vier Kinder, das fünfte unterwegs – was macht man da? Oder Mutter dreizehn, Vater vierzehn – was macht man da? Wie will man mit solchen Fällen klarkommen, wenn Sie nicht vor allem auch soziale Hilfe setzen und solch ein Menschenkind dann aufzufangen versuchen. Von daher trete ich schon sehr dafür ein, daß wir die soziale Dimension sehr nach vorne rücken, weil sie die Basis auch für ethische Entscheidungen ist. Und nun habe ich in diesem Spiegel-Artikel einen konkreten Fall beschrieben: Eine ganz flotte junge Frau, Aufstiegsposition, fährt zur Fortbildungsveranstaltung ihrer Firma, ist verlobt, aber hat in der Fortbildungsveranstaltung mehr als eine schwache Stunde – mit Konsequenzen, und erklärt, sie müsse abtreiben, weil ja ansonsten meine Karriere und meine Verlobung weg sind. Und da habe ich geschrieben, daß das dieselbe Moral sei, die Männer haben, wenn sie in den „Puff“ gehen. Da war was los. Daß wir die moralische Verpflichtung bei einer vermeintlich folgenlosen Sexualität – das hatten die Männer immer – die Frauen können jetzt auch eine folgenlose Sexualität haben, und die moralische Dimension dafür haben wir noch gar nicht hinreichend erörtert, das ist ein so großes Feld, denn ich kann sogar die natürliche Methode unsittlich einsetzen, es hängt nicht an der Pille, es hängt am Ziel meines Handelns, nicht am Mittel. Und genau um diese Dinge geht es dann auch bei Gesetzen. Um noch einmal Ihre Frage aufzugreifen, da geht es darum, daß der Staat Bedingungen schaffen kann, aber er kann nicht inhaltlich füllen. Und nun ist ja immerhin bei 218 ein Grundrecht betroffen, das Grundrecht auf Leben und die Menschenwürde – diese beiden Grundrechte zu schützen, dazu ist er in der Tat verpflichtet und das hat auch Böckenförde nie bestritten.

Zuhörerfrage (Herr Karl-Josef Bußmann):

Das Problem, das damals entstand, es geht ja bei moralischen Fragen immer um die Frage „gut oder böse?“ und ich bin so erzogen worden und ich stehe auf dem Standpunkt, daß esdazwischen eigentlich sehr wenig gibt. (Einwurf Frau Dr. Laurien: „Dann bewundere ich Sie.“) Das ist ein sehr harter Kampf, das ist ja nicht die Frage des Kompromisses, es gab damals die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Herrn Spaemann aus München und Herrn Böckenförde, da ging es um das Problem „Sind Wertmaßstäbe absolut oder relativierbar?“

Frau Dr. Hanna-Renate Laurien:

Aber junger Freund, darüber habe ich heute abend doch pausenlos gesprochen, daß es eben kein Schwarz/Weiß gibt, ich habe darüber gesprochen, daß es dieses Scharz/Weiß nicht gibt, sondern es gibt ein Abwägen für den Menschen und für dieses Abwägen muß er erzogen werden. Das total Böse ist uns in der Tat in Auschwitz begegnet, aber daß das möglich ist, darauf haben wir keine Antwort. Und daß man Jesus ans Kreuz geschlagen hat, er erfährt das total Böse und nimmt das in die göttliche Existenz als Erfahrung mit ein – das ist unfaßbar, da reicht ein ganzes Leben nicht, darüber nachzudenken. Und wenn Sie das jetzt auf unsere kleinen Alltäglichkeiten beziehen, dann werden wir erkennen, daß wir selten so absolut gut und so absolut böse sind. Aber die Mischformen sind erheblich, und insofern ist das ja vielleicht die größte Veränderung in der Moral. Lesen Sie einmal einen Beichtspiegel von früher, da bekommen Sie einen Herzschlag, also da kommen wir zum Teil wahnsinnig gut weg, weil wir das ja alles nicht mehr machen, sondern es geht ja um eine sehr viel differenziertere Form, also ich habe genascht hä, hä. Aber wenn ich mich einem anderen Menschen verweigere, auch, es gibt auch eine Opferbereitschaft, die unerträglich ist, wenn sich jemand selbst als totales Opfer erlebt, das ist auch unerträglich, der muß bitte auch hin und wieder einmal zu sich selbst ja sagen. Alle diese Dinge sind Abwägungsentscheidungen – das war eigentlich die Botschaft für das dritte Jahrtausend. (starker Applaus)

Herr Paul Wöste:

Frau Dr. Laurien, ein passenderes Schlußwort hätte man sich nicht wünschen können, ich bedanke mich für Ihre Ausführungen und für Ihre Bereitschaft zur offenen Diskussion. Ich darf dann an P. Meyer-Schene abgeben, vorher jedoch den Schülersprecher Ekke Seifert an das Mikrofon bitten.

Schülersprecher Ekke Seifert:

Sehr geehrte Frau Dr. Laurien, im Namen der Schülerschaft des Gymnasiums Leoninum möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen für den sehr interessanten Vortrag und für Ihr Engagement bedanken und möchte Ihnen aus diesem Anlaß diese Aufnahme von unserer gesamten Schulgemeinschaft zur Erinnerung und als Zeichen des Dankes überreichen.

P. Dr. J. Meyer-Schene:

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrte Frau Dr. Laurien, ich darf mich am Ende der Veranstaltung bei Ihnen verehrte Eltern und Gäste nochmals ganz herzlich bedanken, daß Sie gekommen sind. Die an den Vortrag anschließende Diskussion hat gezeigt, daß Frau Laurien Kernprobleme ethischer Fragen getroffen hat und gleichzeitig auch, daß eindeutige Antworten auf ethische Fragen nicht immer leicht zu geben sind. Diskussionen mit Frau Laurien können auch länger dauern, ich darf auch einmal aus der Schule plaudern, sie hat es ja auch getan, ich habe in Ihrem sog. Kölner Zirkel in den 60er Jahren Diskussionen mitgemacht, daß wir erst mit der letzten Straßenbahn, mit dem sog. Lumpensammler nach Hause fahren mußten, aber es war immer bis zum Ende höchst interessant und wenn es das noch gäbe, käme ich übrigens noch wieder.

Ich darf Ihnen liebe Frau Laurien morgen einen guten Heimweg wünschen und mich noch einmal ganz herzlich bedanken, daß Sie nach Handrup gekommen sind. Ich danke Ihnen.

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